Weshalb ist Storytelling in der Unternehmenskommunikation heute so wichtig? Zum einen, weil Geschichten neugierig machen, sagt Kommunikationsdesigner Michael Hauri. Er kennt aber noch zwei wichtigere Gründe für diese Marketing-Methode.
Michael, in einem deiner Vorträge geht es um „Storytelling in der Unternehmenskommunikation“. Wofür willst du damit sensibilisieren?
Ich stelle immer wieder fest, dass der Begriff Storytelling völlig inflationär verwendet wird: für alles, was etwas erklärt. Storytelling ist aber mehr, als einen Wikipedia-Artikel oder eine Bedienungsanleitung zu schreiben. Storytelling hat Kriterien und braucht bestimmte Zutaten – zum Beispiel einen Protagonisten und einen Konflikt, Gegensatz, Widerspruch oder Wendepunkt. Wenn ich diese Zutaten nicht habe, kann ich vielleicht Fotos und Infografiken und wissenschaftliche Artikel produzieren, aber keine Geschichten erzählen.
Unternehmen werden einwenden, dass sie keine Konflikte haben – oder zumindest nicht darüber sprechen wollen …
In der Tat ist es vermeintlich erst einmal ein Widerspruch, Konflikte im Unternehmenskontext einzubauen. Aber dann sagen wir eben einfach: Herausforderung. Am Anfang steht eine große Frage, und die Geschichte zeigt einen Protagonisten über Hindernisse hinweg zu einem positiven Ergebnis.
Weshalb ist es für Unternehmen so wichtig, Geschichten zu erzählen?
Geschichten haben drei Vorteile. Erstens: Sie machen uns neugierig und wecken Aufmerksamkeit. Zweitens: Sie involvieren uns emotional. Und drittens: Emotionale Geschichten speichern wir in unserem episodischen Gedächtnis ab. Das ist dieselbe Stelle, an der auch unsere persönlichen Erfahrungen liegen. Geschichten bleiben also im Gedächtnis, als hätten wir sie selbst erlebt. Das funktioniert allerdings nur, wenn sie uns tatsächlich emotional berühren. Genau deshalb sind Infografiken für mich KEIN Storytelling. Sie erleichtern zwar das Verständnis eines Themas und prägen sich gut ein, aber sie berühren uns nicht emotional.
Wie entsteht Emotionalität im Storytelling?
Indem man sogenannte Metathemen anspricht, die unser Zielpublikum mit hoher Wahrscheinlichkeit berühren. Der Publizist Marcel Reich-Ranicki hat einmal gesagt: „In der Literatur gibt es nur zwei Themen: Liebe und Tod.“ Wenn ich eine Geschichte erzähle oder ein Interview führe und komme in einen dieser Bereiche, dann wird es auch im Unternehmenskontext spannend. Das klappt natürlich nicht immer, weil die Story nach wie vor relevant fürs Unternehmen bleiben muss.
Welche Fehler passieren häufig?
Es gibt zwei Fehler, die ich immer wieder sehe. Der erste Fehler ist, dass keine Spannung entsteht, weil ein Thema wie ein Erklärvideo oder eine Bedienungsanleitung verpackt ist. Rätsel sind der Treibstoff für Spannung. Der zweite Fall ist, dass eine Geschichte unglaubwürdig erzählt wird. Das passiert, wenn sie komplett erfunden ist. Oder wenn es keine O-Töne, sondern nur Werbesprecher gibt. Oder wenn nicht mit realen Menschen, sondern mit Schauspielern gearbeitet wird.
Wie finden Unternehmen dann gute und emotionale Geschichten?
Es braucht häufig einen Blick von außen, um Storys zu identifizieren oder zumindest einzuordnen. Wer in einem Unternehmen arbeitet, sieht häufig nur sein Produkt und kann sich nicht vorstellen, was es darüber Emotionales zu erzählen geben soll – wir kennen ja alle die sogenannte Betriebsblindheit. Hilfreich ist es auch, seine Vertriebsmitarbeiter in die Themensuche einzubinden. Sie wissen, was Kunden gerade unter den Nägeln brennt. Daraus lassen sich wieder Geschichten generieren.
Wie wichtig ist es, beim Storytelling an seine Zielgruppe zu denken – vor allem in der Unternehmenskommunikation?
Sehr wichtig: Das alte monopolistische Medienmodell mit Verlagen sowie TV- und Radiokanälen funktioniert im Internetzeitalter nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei, in denen Journalisten etwas in die Welt senden konnten in der Annahme, dass es schon irgendjemanden interessieren wird. Journalismus und Unternehmenskommunikation müssen heute genau umgekehrt denken und sich fragen: Was beschäftigt unsere Zielgruppe, wo sind ihre Bedürfnisse, welche Hilfe braucht sie?
Kannst du ein Beispiel nennen?
In einem Seminar für Fotojournalisten haben wir als Zielpublikum eine fiktive zwanzigjährige Studentin namens Zahel auserkoren. Ein Teil der Teilnehmer hat sich mit dem Thema „Heimat“ beschäftigt. Wie aber sollten wir recherchieren, was Zahel interessiert? Wir haben herausgefunden, dass zwanzigjährige Studenten sich nicht mehr für Facebook interessieren, sondern sich in der Campus-App Jodel herumtreiben. Davon hatte ich zuvor noch nie etwas gehört, aber das ist DAS neue Ding unter Studenten. Dieses Wissen haben wir für die Recherche verwendet und bei Jodel eine Umfrage gestartet, um daraus dann Heimatgeschichten zu entwickeln.
Eine andere Gruppe hatte eine große Affinität zum Klettern. Allerdings ging es in den ersten Ideen vor allem um Dinge, für die sich die Gruppe selbst interessierte – und nicht um unsere fiktive zwanzigjährige Zahel: War sie überhaupt schon mal klettern? Oder muss sie erst noch überzeugt werden, dass klettern Spaß macht? Wir haben das Projekt deshalb noch einmal neu aufgebaut. Am Ende haben wir das Resultat Leuten aus der Zielgruppe vorgestellt, und die waren komplett begeistert vom Projekt „Kletterclique“.
Michael, vielen Dank für das Gespräch.
Titelbild: publish! | Material: Adobe Stock
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Porträtfoto: Norbert Müller