Lies mich: Das Geheimnis, gute Texte zu schreiben

Drei pro Woche, rund tausend in vier Jahren: Die Plattform Liesmich.me empfiehlt außergewöhnlich gute Texte. Laurence Thio ist einer der Gründer. Wie wichtig Sprache, Struktur und Thema für einen Text sind und woran er gute Texte erkennt, erklärt er im Interview.  

 

Ihr empfehlt Texte – zum Beispiel Reportagen und Porträts –, für die man mitunter sechzig Minuten zum Lesen braucht. Liest überhaupt jemand solch lange Texte im Internet?!

Definitiv. Viele Leute erfreuen sich daran – und teilen Artikel in ihren Netzwerken. Fast ein Drittel unserer Abrufe kommen von mobilen Endgeräten. Selbst auf einem kleinen Smartphone werden also 10.000- bis 15.000-Zeichen-Dossiers gelesen: von Leuten, die sich intensiv mit einem Thema auseinandersetzen und Hintergründe bekommen wollen.

Welchen Charme haben lange Texte im Vergleich zu kurzen Artikeln?

Der Reiz einer langen Geschichte ist, dass ich tief in ein Thema eintauchen kann. Ein Reporter nimmt mich mit in eine für mich fremde Welt und friert die Zeit ein, ohne dass ich es merke. Dafür braucht es detaillierte Beschreibungen und mehr Platz als zwei Magazinspalten.

Wie entscheidet Ihr Woche für Woche, was einen Text zu einem guten Text macht?

Da gibt es kein einfaches Rezept, sondern unterschiedliche Bestandteile. Das kann ein besonderer Umgang mit Sprache sein, es kann aber auch die Struktur sein, oder – was sehr häufig vorkommt – eine gewöhnliche Geschichte, die ungewöhnlich erzählt wird. Erzählt man einen Stoff weiter, ist er diskussionswürdig und kontrovers? Das sind Anhaltspunkte für eine gute Reportage.

Was meinst Du mit Struktur?

Wer nur selten selbst schreibt, geht davon aus, Journalisten schreiben einfach drauflos. Das klappt aber nur in den seltensten Fällen. Die meisten guten Texte haben einen klaren Aufbau, der sich häufig am Drama orientiert: Am Anfang gibt es einen Konflikt, am Ende ist der Konflikt gelöst – und der Raum dazwischen beschreibt den Lösungsweg.

Was macht gute Sprache aus?

Ich finde Sprache gut, wenn sie Atmosphäre transportiert, überrascht und eine Geschichte in ihrer Wortwahl unterstützt. Bestimmte Themen verlangen einen bestimmten Ton. Beim Thema Flüchtlinge ist zum Beispiel Sensibilität gefragt. Wen wir schon häufig wegen seines Sprachstils empfohlen haben, ist der Schweizer Journalist Erwin Koch. Zwar ist er nicht leicht zu lesen, hat aber einen unglaublichen Sog. Ich kenne niemanden, der nicht geweint hätte, nachdem er seine Reportage „Bitte verzeih mir. dein lieber Sohn“ gelesen hat. Diesen Text hätte man nicht nach Schema F einer Journalistenschule schreiben können mit einem knalligen Einstieg und so weiter. Hier passt die sensible Sprache einfach zum Thema.

Du sprichst vom Einstieg: Wie wichtig ist er, um einen gelungenen Text zu schreiben?

Sehr wichtig. Wenn er nicht gelungen ist, fällt es mir als Leser schwer, mich auf einen Text einzulassen. Man wägt ab, ob man sich die Zeit zum Lesen nimmt. Noch mehr gilt das online, weil man auf einem Bildschirm nur schwer abschätzen kann, wie lange ein Text tatsächlich läuft.

Wie abhängig sind gute Texte vom Thema, um das sie sich drehen?

Grundsätzlich kann man zu jedem Thema eine gute Reportage schreiben. Mein Eindruck ist aber, dass Entdeckerreportagen auf dem Vormarsch sind. Früher haben einen Autoren in die Welt eines Kaninchenzüchtervereins mitgenommen, heute reisen Reporter wie Michael Obert fürs „SZ-Magazin“ in sudanesische Schleuserringe. Man fragt sich beim Lesen: Wie hat er das bloß geschafft? Im besten Fall kommt alles zusammen: Du kannst gut schreiben und hast ein relevantes, überraschendes Thema.

Einige von Euch arbeiten im Bereich PR. Welche Überschneidungen gibt es dort zu journalistischen Arbeiten?

Was das textliche angeht, kann man in einem Unternehmensmagazin dasselbe journalistische Handwerk anwenden wie in einem Kiosktitel. Der größte Unterschied ist die Unabhängigkeit: Wer ein Porträt über einen Industrielenker oder Unternehmenschef schreibt, wird das in einem Unternehmensmagazin weniger kritisch tun als ein unabhängiger Journalist. Es ist halt ein anderer Ansatz. Das sollte einem ganz klar sein.

Du warst gerade in den USA – von dort stammt die Idee für Longread-Plattformen wie Liesmich.me. Weißt Du, ob es in den Staaten andere Lesegewohnheiten gibt?

Zumindest kann ich sagen, dass lange Texte in den USA eine größere Tradition haben. Artikel in „The New Yorker“ gehen auch heute noch in epische Breite – teils sind sie sogar doppelt so lang wie ein Dossier in der „Zeit“.

Eure Plattform gibt es seit 2012. Was hat sich in den vergangenen vier Jahren geändert?

Wir sind strenger geworden – was einfach daran liegt, dass manche Themen immer wiederkommen und wir wissen: Da hatten wir schon bessere Texte.

Wir merken außerdem, dass immer mehr Nachrichtenportale ihre Reportagen hinter Paywalls verstecken und nicht mehr frei weggeben. Und wenn, dann sind sie schwer auffindbar. Nachrichtenseiten funktionieren eben besser mit kurzen Texten.

Was wir auch merken, sind die sehr hohen Abrufzahlen auf mobilen Endgeräten. Wie gesagt: Fast ein Drittel aller Aufrufe auf unserer Seite kommen von Smartphones und Tablets.

Und unsere Newsletter werden immer häufiger abonniert. Das deckt sich mit dem allgemeinen Trend: Viele Leser wollen nicht mehr aktiv auf eine Seite gehen, sondern kuratiert werden. Wir schicken jeden Freitag eine Mail mit den aktuellen Reportagen raus – und haben auch ein eigenes Format entwickelt: Wir sortieren unsere Newsletter thematisch – zu Themen wie Essen und Verbrechen suchen wir zeitlose Reportagen aus unserem Archiv. Auch auf Blendle haben wir übrigens eine Art Kuratorenkanal. Dort können wir Texte empfehlen, die sonst nur hinter einer Paywall zu finden sind. Unser Fokus liegt aber weiterhin auf frei zugänglichen Texten.

Zum Schluss – denn vielleicht hat noch jemand ein bisschen Zeit zum Weiterlesen: Welches ist Deine Lieblingsreportage?

Eine? Wir empfehlen jede Woche drei Stück! Da gibt es viel zu viele, die mir gefallen.
Titelbild: Adobe Stock

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Zur Person:

Laurence Thio ist Journalist und macht seit vier Jahren gemeinsam mit Lukas Bischofberger, Regina Hufnagl und Jennifer Rotter die Plattform Liesmich.me. Mit etwa tausend empfohlenen Reportagen ist sie die größte Longreads-Plattform in Deutschland. Durchschnittlich erreicht Liesmich.me über Website, Newsletter und Social-Media-Kanäle mehrere Zehntausend Leser pro Monat. Abonnieren kann man den Newsletter unter abo.liesmich.me


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