Vorbild Journalismus: Storytelling braucht Konflikte

Content-Marketing muss journalistisch sein, predigen wir ständig. An einem Beispiel aus der Zeitung „Die Welt“ über den Fahrplan-Chef der Deutschen Bahn wollen wir das einmal exemplarisch erklären und erläutern, weshalb Storytelling sinnvoll ist. Denn dieser Artikel hätte (fast) genau so im Kundenmagazin der Bahn erscheinen können. Trotz … nein, gerade wegen seiner selbstkritischen Töne.

 

Seit meinem Interview mit Laurence Thilo von Liesmich.me bekomme ich jeden Freitag einen Newsletter mit drei bis fünf Reportagen. Ein Teaser hat es mir kürzlich angetan: „Rüdiger Weiß ist der Herr der Züge. Er wacht über die Fahrpläne und trägt die Verantwortung für die Pünktlichkeit. Und um die steht es nicht gut: 7974 Stunden Verspätung häuft die deutsche Bahn pro Tag an. Was kann Weiß dagegen tun?“

Der Artikel „Jetzt ist Herr Weiß am Zug“ ist aus der „Welt“. Ich begann zu lesen. Lernte Herrn Weiß kennen und wie er einen Fahrplan erstellt. Wie kompliziert das ist. Und murmelte spätestens nach der Hälfte des Textes zu meinem Kollegen Mathis auf die andere Seite des Büros hinüber: „Dieser Text hätte genau so im Kundenmagazin der Bahn erscheinen können.“

Offener und offensiver Umgang mit Problemen

Wie jetzt: Eine Reportage, in der es um ein Manko geht, soll in einem Kundenmagazin erscheinen? Selbstkritisches Storytelling im Content-Marketing?

Ja, exakt.

Denn der Text spricht ein Thema an, das viele Bahnfahrer nur noch mit Emotionen statt rationalem Denken beantworten. Sie reden sowieso darüber. Deshalb ist es an der Zeit, mitzureden. Als betroffenes Unternehmen. Und zwar nicht von oben herab, sondern so, wie es der Autor des „Welt“-Artikels macht: Er schafft Verständnis (obwohl er primär gar nicht für die Bahn, sondern in einem unabhängigen journalistischen Medium über die Bahn schreibt).

Ich erkenne im Artikel drei einfache Mittel, auch für kritisches Storytelling im Content-Marketing:

  1. Der Protagonist wirkt sympathisch
  2. Der Protagonist leugnet das Problem nicht
  3. Der Protagonist erklärt nachvollziehbar, wie das Problem entsteht

Werfen wir zunächst einen Blick auf alle drei Punkte zusammen: Sie drehen sich um einen Protagonisten. Um einen Menschen also! Der weiße und gelbe An- und Abfahrtsplan aus jeder Bahnhofshalle hat plötzlich ein menschliches Gewand; ein dröges Thema ist jetzt die Geschichte über einen Mann und seinen Beruf.

Ein sympathischer Protagonist

Der Autor zeichnet diese Hauptperson seines Artikels als ganz normalen Menschen – als einen von uns: Einen, der sich in 35 Jahren vom Schaffner zum Chef der Fahrplan-Abteilung hochgearbeitet hat. Einen, der mit Bratwurstbrötchen in der Frankfurter Abfahrtshalle steht und Zügen hinterherschaut. Einen, der seinen Beruf liebt („in seinen Augen glimmt Stolz“). Einen, der Jeans und Sneakers bei der Arbeit trägt statt Anzug wie die da oben im Vorstand. Und einen mit ganz normalem Privatleben: Als eine der schlimmsten Verspätungen die Bahn heimsuchte, stand dieser Mann der Fahrpläne gerade in seinem Garten und grillte Bratwürste. Und ärgerte sich maßlos, als er dann von diesem Chaos erfuhr („Ich nehme es wirklich persönlich, wenn solche Dinge schiefgehen.“).

Weil dieser Mann im Laufe des Artikels immer „einer von uns“ bleibt, mögen wir ihn. Der kann ja nichts dafür, so der Tenor. Von dem lassen wir uns gerne was erzählen. Selbst wenn es sich dabei um ein Problem handelt.

Ein ehrlicher Protagonist

Womit wir bei Punkt zwei wären: Rüdiger Weiß spricht offen an, was nicht so gut läuft bei der Bahn. Es handelt sich dabei nicht um eine Bagatelle. Wäre es eine, die nur ein Bruchteil der Kunden kennt, dann könnte man zurecht sagen: „Warum sollten wir den anderen und größeren Teil unserer Kunden aktiv darauf aufmerksam machen?“ Dass die Bahn immer zu spät kommt, das ist jedoch ein allgemein so empfundenes – und gehasstes – Problem.

Ein verständlich erklärender Protagonist

Unser sympathischer Protagonist weiß aber, richtig damit umzugehen: Er rechtfertigt nicht. Sondern er erklärt – in einer Sprache, die so einfach funktioniert wie die „Sendung mit der Maus“ oder „Löwenzahn“. Mit seinen Infos soll dann jeder Leser selbst entscheiden, ob er bei der nächsten Verspätung – egal, wie ärgerlich sie ist – über die komplizierten Hintergründe nachdenkt und gelassener reagiert.

Da sind zum einen diese großen Zahlen, die uns der Fahrplan-Chef (beziehungsweise der Autor) vorsetzt: 40.000 Züge von 400 Eisenbahnunternehmen mit unterschiedlichen Interessen. 33.000 Kilometer Gleise. 75.000 Trassen. Zwischen Hamburg und Berlin allein 50 Güterzüge, 30 Regionalzüge und 50 Intercitys und ICE mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Jeden Tag. Dass da viel miteinander verzahnt ist und jedes Sandkorn im Getriebe den Fahrplan durcheinanderbringt – das muss doch selbst dem unzufriedensten Bahn-Kunden einleuchten. Zumal wir die Info von unserem sympathischen und vertrauenswürdigen Protagonisten bekommen.

Dann arbeitet er mit Beispielen, wie das feine Konstrukt aus den Fugen geraten kann: „Wie lange braucht ein rotes Signal, um auf Grün zu springen? Wie lange braucht eine ICE-Tür, um sich zu öffnen? Welche Besonderheiten hat Bahnhof XY, welche Pufferzeit muss man also an welcher Haltestelle einkalkulieren? Und, und, und. Es ist ein Mikadospiel.“ Aber dann gibt es da Baustellen. Und erhöhte Nachfrage. Und – schwupp! Das Mikado wackelt.

Als Leser kann man sich noch weitere Punkte hinzudenken – solche, für die die Bahn nichts kann: schlechtes Wetter, der sogenannte Personenschaden, rauchende Fahrgäste, die an einem planmäßigen Zwischenhalt in der offenen Tür rauchen und die Lichtschranke blockieren.

Der Clou im Storytelling: Aussicht auf Besserung

Die Ursachen für das Problem „Verspätung“ zu kennen löst das Problem an sich zwar nicht. Aber es ist erklärt. Und Rüdiger Weiß macht noch dazu klar, dass die Bahn sehr wohl bestrebt ist, es besser zu machen. „Die Leute aber sehen diese kleinen Verbesserungen nicht. Sie sehen, dass die Bahn nach wie vor zu spät kommt“, schreibt der Autor. Sie wollen halt nach wie vor „diese Deppen von der Bahn“ beschimpfen und ihre Wut öffentlich über Twitter und Facebook ablassen. Wie bei Jogi Löw: „Es gibt 82 Millionen Deutsche, die es besser wissen.“

Da braucht es dann halt jemanden wie unseren Herrn Weiß, der am Taktik-Board beschreibt, weshalb das Runde nicht rechtzeitig im Eckigen war. Beziehungsweise der Zug nicht rechtzeitig im Bahnhof.

Bezeichnend, dass mir das ein Medium wie die „Welt“ erklärt. Ein journalistisches Medium, dem ich Glauben schenke. Ich jedenfalls habe nach dem Lesen noch mehr Verständnis, dass da mal etwas schief gehen kann auf 75.000 Trassen mit 40.000 Zügen. Ein gutes Beispiel also für erfolgreiches Content-Marketing mit Hilfe von Storytelling.

PS: So macht’s die Bahn

Wie die Deutsche Bahn selbst mit dem Thema umgeht? Der Konzern hat sich mit Herrn Weiß getroffen und ein Video gedreht. Wenn ich – aus der Perspektive eines Bahnkunden – entscheiden muss, was mich mehr überzeugt und vor allem, was ich ehrlicher finde; den „Welt“-Artikel oder das „Bahn“-Video? Was – im wahrsten Sinne – besser bei mir ankommt? Meine Meinung ist eindeutig. Aber entscheidet selbst.
Titelbild: publish!

Auch interessant:

Lies mich: Das Geheimnis guter Texte

Journalismus in Kampagnen? Geht gut!

 

Ein Gedanke zu “Vorbild Journalismus: Storytelling braucht Konflikte

  1. Ein Beitrag, der für viele Unternehmen Pflichtlektüre sein sollte. Dort herrscht noch immer panische Angst vor, wenn es um das Einräumen von Problemen geht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.