Text hat im digitalen Storytelling – trotz Video, trotz Audio, trotz animierter Grafiken – nichts an Bedeutung verloren. Journalist Bernhard Lill erläutert die Stärken jedes Formats und wie sie am besten harmonieren.
Herr Lill, wir telefonieren gerade, und dieses Interview veröffentlichen wir digital – aber nicht als Audiospur, sondern verschriftlicht zum Lesen. Wie widersinnig ist das?
Überhaupt nicht widersinnig. Text hat auch digital seine Stärken. Wenn Nutzer Informationen schnell haben möchten, können sie Text nach Stichwörtern scannen. So finden sie im Nu die Textpassagen, die sie wirklich interessieren. Bei einem Video oder einer Audiodatei dauert das länger. Da wissen sie meist erst am Schluss, ob es sich gelohnt hat, dranzubleiben. Außerdem können wir uns eine digitale Geschichte – oder ein digitales Magazin – nicht bloß aus Bildern, Grafiken und Videoschnipseln basteln. Wir brauchen immer Text, um einen Zusammenhang zwischen diesen multimedialen Elementen herzustellen. Und dann noch das Stichwort SEO. Auch dafür ist Text unerlässlich.
Was muss Audio leisten, um für digitale Publikationen als eine Darstellungsform unter mehreren in Betracht zu kommen? Hat Audio eine Berechtigung im Storytelling?
Auf jeden Fall! Audio ist total angesagt – online und in Apps. Podcasts boomen, und Clubhouse macht Schlagzeilen: ein soziales Netzwerk, das ausschließlich auf Audio basiert. Keine Likes, kein Teilen. Nur zuhören und sprechen. Und Podcasts sind unschlagbar als Nebenbeimedium. Ich kann sie mir herunterladen und beim Joggen hören oder beim Autofahren. Und im Gegensatz zu Video regt Audio viel stärker die Vorstellungskraft der Zuhörer an. Es ist ein großer Unterschied, ob ich mir einen Thriller als Podcast anhöre und mir mit meiner Fantasie die gruseligen Szenen ausmale, oder ob ich in einem Video alles fertig vorgesetzt bekomme. Wenn ich zuhöre, ist mein Geist aktiver, als wenn ich zuschaue.
Außerdem ist Audio viel emotionaler als Text: In einem Audio-Interview können wir die Stimme des Interviewten hören, die Klangfarbe. Wir bekommen eins zu eins mit, ob er zum Beispiel verunsichert ist oder amüsiert, weil diese Gefühle über die Stimme transportiert werden. Über die Stimme bekommen wir auch viel vom Charakter des Sprechers mit. Ist er ein ruhiger Typ oder eher ein nervöser?
Beim digitalen Storytelling geht es aber nicht darum, Text, Video, Audio oder Grafiken gegeneinander als Formate auszuspielen. Es geht um ihren zielgerichteten Einsatz. Oder: um das bestmögliche Zusammenspiel.
Welche Darstellungsformate hat das Digitale vor allem befeuert?
Audio ist sehr stark geworden. Aber Bewegtbild ist der große Gewinner. Im Jahr 2020 sollen laut Visual Capitalist jede Minute 500 Stunden Videomaterial weltweit auf Youtube hochgeladen worden sein. Und auf Facebook sehen Nutzer jeden Tag einhundert Millionen Stunden Video. Dieser Videoboom hat auch mit technischen Entwicklungen zu tun: Mit Smartphones lassen sich Videos viel kostengünstiger produzieren als mit großen Kameras. Und auch die technische Hürde ist bei einem Smartphone nicht so hoch. Ideal also für Videoblogger auf Youtube, aber auch für Firmen oder Redaktionen, die mit Videos präsent sein möchten in Social Media.
Und welche Entwicklungen sehen Sie noch kommen?
Was im Kommen ist: Virtual Reality und 360-Grad-Videos – vorausgesetzt, man muss künftig dafür nicht mehr diese klobigen Brillen umschnallen. Also wenn die leichter werden, oder, denken wir mal futuristisch, wenn die in eine Kontaktlinse passen würden, das wäre cool. In keinem anderen Format können Sie so in die Geschichte eintauchen. Das Gefühl zu haben, selbst vor Ort zu sein, Teil der Geschichte zu sein, in der Sie sich bewegen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Produktion der Firma intoVR & Video: Stasigefängnis: 360-Grad-Film „Was wollten Sie in Berlin?!“ Da lernen Sie den Stasiknast Hohenschönhausen aus der Sicht eines neuen Häftlings kennen. Und das ist im 360-Grad-Video sehr bedrückend!
Richtet sich das Darstellungsformat nach der Story oder die Story nach dem Darstellungsformat?
Bei der Frage kommt es eher darauf an, für wen Sie arbeiten: für einen TV-Sender, der hauptsächlich Videomaterial braucht, aber auch soziale Netzwerke bespielt? Oder für ein Printprodukt, bei dem Sie den Onlineauftritt mitbedenken müssen? Oder gleich für ein Webmagazin? Fundamental wichtig ist, dass Sie sich vor der Produktion der Story überlegen, auf welchen Kanälen Sie das Material zusätzlich ausspielen möchten. Denn davon hängt ab, welches Ausgangsmaterial Sie unbedingt benötigen: Video, Audio, Text, Fotos? Am vielseitigsten können Sie Video crossmedial verwenden. Videomaterial liefert Ihnen Bewegtbild, Ton und Fotos. Wenn Sie den Ton extrahieren, können Sie ihn auch fürs Radio verwenden oder für Podcasts. Und wenn Sie den Ton dann noch mal transkribieren lassen, haben Sie auch Text – zum Beispiel für Print. Also ist es nicht schlecht, beim nächsten Termin einfach mal mit dem Smartphone zu filmen.
Welchen Einfluss haben soziale Medien auf die Wahl des Formats?
Oh, die haben schon einen. Beim Filmen muss ich mir zum Beispiel überlegen: Will ich das Material auch noch für eine Insta-Story nehmen? Die ist vertikal. Kann ich dann trotzdem horizontal filmen? Kann ich. Aber wenn ich dann einen vertikalen Streifen aus dem horizontalen Format für die Insta-Story herausschneide, wird die Qualität des Films schlechter. Habe ich in Full HD, das sind 1080p, gefilmt, hat die Insta-Story vielleicht nur noch eine Qualität von HD, also 780p. Natürlich bieten viele Smartphones an, gleich in 4K zu filmen. Doch das kostet viel mehr Speicherplatz und saugt den Akku schneller leer. Die sozialen Netzwerke und deren technischen Anforderungen oder Limits haben durchaus Einfluss auf die Wahl unseres Formats und auf unsere Produktion.
Als Beispiele für digitales Storytelling nennen Sie in Ihrem Blog auch lange und aufwendige Stücke. Wer schaut sich denn so was Langes, Verschachteltes tatsächlich an?
Wenn die Story wirklich sehr lang und verschachtelt ist und kompliziert, steigen Nutzer zu Recht aus! Dann ist aber auch die Story schlecht aufbereitet. Ich denke, Sie spielen auf die sogenannten Scrollytelling-Reportagen oder Multimediareportagen an. „Snowfall“ von der „New York Times“ aus dem Jahr 2012 ist eines der bekanntesten Beispiele. Und sehr gehypt, damals. Zu Unrecht, wie ich finde. Da haben Sie eine unendliche Textwüste und nur ein paar multimediale Elemente. Ich kenne niemanden, der bei „Snowfall“ bis zum Schluss dabeigeblieben ist. Doch das ist schon wieder neun Jahre her. Inzwischen haben die Redaktionen aus dem Nutzerverhalten gelernt. Sie veröffentlichen Multimediareportagen, in denen Text eher homöopathisch verabreicht wird. Eine meiner Lieblingsreportagen stammt auch von der „New York Times“ – und zwar über die Ausnahmeathletin Simone Biles. Und diese Scrollytelling-Reportage besteht aus vielen kleinen und übersichtlichen Elementen – aus Snackable Content. Das sieht auch gut auf einem Smartphone aus.
Es ist übrigens eine falsche Annahme, dass Nutzer online immer nur schnelle und kurze Kost haben wollen. Sie beschäftigen sich durchaus auch mit längeren Stücken – auch auf dem Smartphone. Das hat die Universität von Missouri in einer Studie mit Millennials herausgefunden, also mit Teilnehmenden im Alter von Anfang zwanzig bis Ende dreißig. Die Haupterkenntnisse: Millennials lesen auch längere Storys online, sofern sie relevant für sie sind. Doch glauben sie, dass Videos, Fotos und Infografiken Inhalte schneller vermitteln können. Und: Teilnehmer, die eigene Geschichten für Mobilgeräte planen sollten, haben den Text auf ein Viertel gekürzt und verstärkt auf multimediale Elemente gesetzt. Sie wollen Interaktivität.
Greifen wir uns mal einen Artikel aus einem digitalen Magazin oder einem Blog heraus. Wie sollten Darstellungsformen innerhalb dieses einen Themas aufeinander aufbauen?
Nutzer möchten Informationen möglichst schnell bekommen. Das heißt: Wir müssen immer die Darstellungsform wählen, die Infos am schnellsten transportiert. Zum Beispiel: Bei vielen Zahlen ist das nicht Text, sondern eine übersichtlich aufbereitete Infografik. Außerdem müssen wir aufpassen, dass wir in einer Story Informationen nicht doppelt bringen. Also nicht dasselbe sagen im Video wie im darauf folgenden Text. Dann steigen Nutzer schnell aus.
Wenn wir eine Webseite planen oder eine Scrollytelling-Reportage, muss unser wichtigstes Ziel sein, die Nutzer im Flow zu behalten: Sie müssen beim Herunterscrollen die Informationen schnell erfassen und leicht verdauen können. Nie darf ihr Blick auf den Scrollbalken rechts an der Seite abschweifen. Wenn die Nutzer dahin schauen, weil sie wissen wollen, wie lang unsere Geschichte noch dauert, dann haben wir einen Fehler gemacht, haben sie in diesem Moment nicht mehr gepackt.
Wir müssen uns also genau überlegen, welche Informationen sich auf einer Webseite oder in einer Reportage am besten als Text bringen lassen oder wo Audio oder Video die Inhalte adäquater und packender transportieren. Gut ist es, sich ein vertikales Storyboard zu machen und zu überlegen, wie wir auf einer Webseite oder in einer Reportage mit den einzelnen Elementen einen Spannungsbogen hinbekommen: einen Einstieg, der packt; einen Mittelteil, der immer wieder einen Twist hat; und ein Ende, das die Nutzer zufriedenstellt. Sie müssen überzeugt sein: Das hat sich jetzt gelohnt, bis zum Ende dranzubleiben. Das gilt übrigens auch für Insta-, Snapchat- und Facebook-Storys. Das heißt ja Storyformat, weil dort Geschichten erzählt werden sollen und nicht bloß einzelne, zusammenhanglose Bilder hintereinandergereiht.
Was macht für Sie ein gutes, echtes digitales Magazin aus?
Das Magazin muss vor allem relevant für die Leser oder Nutzer sein. Da ist es völlig egal, ob das ein Print- oder Onlinemagazin ist. Es muss sie intellektuell und emotional ansprechen. Es ist klar, dass Marketingverantwortliche, anders als Journalisten, mit ihrer Geschichte auch immer ein Produkt verkaufen möchten. Doch sie müssen das Produkt und die Geschichte vom Kunden her denken. Das passiert mir oft noch zu wenig. Also vorab die Fragen klären: Warum sollte das Produkt den Kunden interessieren? Was ist spannend am Produkt, dass ich darüber eine Geschichte erzählen kann? Und wenn es ein digitales Magazin ist, dann gilt das, was ich gerade auf Ihre letzte Frage geantwortet habe: sich vorab gut zu überlegen, welche multimedialen Elemente transportieren die Story am besten und wie ordne ich sie am sinnvollsten an.
Hat das nicht digitale Storytelling noch eine Zukunft?
Ja, davon bin ich fest überzeugt. Wir befinden uns jetzt im zweiten Jahr der Pandemie und haben bisher Dutzende von Videokonferenzen und Webseminaren hinter uns gebracht. Ich war irgendwann einfach nur froh, wenn ich nicht mehr auf einen Bildschirm oder ein Display schauen musste. Und ich glaube, so geht es vielen mittlerweile. Dann ist es einfach toll, ein gedrucktes Magazin durchzublättern. Oder ein Buch. Oder einen Bildband. Mal abgesehen von der Haptik – ich liebe den Geruch frisch gedruckter Seiten.